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Nachricht vom 18.06.2020    

Geschichten, die das Leben schreibt: Grandpas Finger

GASTBEITRAG | Als ich noch jung an Jahren war, habe ich verhältnismäßig intensiv Sport getrieben. Auch an diesem Sonntagnachmittag vor langer, langer Zeit war ich noch zum Laufen verabredet. Das Ganze endete doch schon fast fatal. Mit vernünftig gerade gestrecktem Mittelfinger kann ich bis heute keine Zeichen geben!

Der Grandpa und sein Finger (Foto: privat)

Ein normaler freier Nachmittag im Leben eines jungen Familienvaters: Ich war dabei, das Spielzimmer unserer Kinder zu renovieren. Ja, schon damals lebte ich derart dekadent, dass meine Kinder ein eigenes Spielzimmer hatten. Gut, dafür schliefen sie gemeinsam auf acht Quadratmetern, aber damit waren die gesetzlichen Vorgaben erfüllt. Übrigens, für einen Schäferhund waren damals 12 Quadratmeter vorgesehen. Klingt komisch, war aber so. Heutzutage – keine Ahnung. Natürlich reichte das Spielzimmer nicht aus. Die Utensilien quollen aus dem Zimmer in alle anderen Räume des Hauses.

Aber ich schweife ab! Also: Es war alles ausgeräumt, es war bereits tapeziert, nur der neue Teppich war noch nicht zugeschnitten. Mein bester Freund erschien und wollte mit mir laufen gehen. Auch meine Frau war anwesend und da ich mit dem nächsten Termin (laufen) ein wenig unter Druck war, nahm das Elend seinen Lauf.

Erst mal auf dem Daumen!
Ich erklärte meinem Freund, nennen wir ihn mal Herbert – „mein Freund Herbert“ in Erinnerung an Gottlieb Wendehals –, dass ich noch ganz schnell den Teppich zurecht schneiden wolle, dann könnten wir gemeinsam den Schrank ins Zimmer tragen und schon würden wir laufen gehen. Also, gesagt getan. Die Auslegeware ins Zimmer verbracht und angefangen mit dem scharfen Messer daran herum zu schneiden. Herbert und meine liebe Frau saßen im Wohnzimmer und warteten ins Gespräch vertieft, dass ich fertig würde. Urplötzlich wurden sie von einem lauten Schrei aus der ohne Frage interessanten, tiefgründigen Unterhaltung gerissen. Ich hatte mich in aller Eile an die Ränder des Teppichs begeben und in der Annahme, wenn ich mich weiter hinten abstützte, längere Strecken schneiden zu können, überschätzt. Also nicht mich, sondern die Stützlast meines Daumens. Es gab ein ekelhaftes Geräusch, der Daumen knickte weg und dieser Umstand veranlasste mich zu einem kurzen Ausruf des ... Lassen wir es bei „Ausruf“. Die Unterhaltung im Wohnzimmer stockte, wurde abgebrochen und beide anwesenden Personen eilten zu mir, um mich nach den Umständen zu befragen. Ich erklärte kurz die Sachlage, tat alles ab mit einem kurzen: „Nicht so schlimm!“ Und weiter ging’s, mit meinem Chaostag und natürlich auch mit der Unterhaltung in unserem Wohnraum.

Nun ging es auf besagten Mittelfinger!
Nur kurze Zeit später ließ die Klinge ähnlich wie mein Daumen in Belastbarkeit nach. Aber ich hatte natürlich einen Vorrat. Kennt ihr noch diese kleinen Kunstoffschatullen, in denen die Ersatzklingen zu kaufen waren? Man zog sie auf. Das Prinzip war oder ist (keine Ahnung ob die kleinen Biester immer noch so verpackt sind), dass man das Kistchen aufschob und nach dem Zusammenschieben kam an der Seite eine Klinge raus. Diese Technik habe ich an diesem Tag gelernt. Also – ich fummelte irgendwie eine Klinge aus dem Sch…ding und bestückte das Teppichmesser neu. Dann, im sicheren Gefühl des Sieges, drückte ich das Teil wieder mit einer Hand zu. Wieder tönte ein kurzer Schrei aus der Baustelle! Niemand kam zu mir geeilt, es wurde lediglich gerufen: Was ist denn jetzt wieder? Wie oben erklärt, kam, wie vorgesehen, beim Zuschieben eine Klinge zur Seite heraus. Diese bohrte sich ordnungsgemäß knapp über dem mittleren Gelenk in meinen Mittelfinger. Ich rief den beiden kurz zu, welches Mitgeschickt mir widerfahren war und setzte zügig meine Arbeit fort.



Schnell den Schrank rein
Ruck, zuck lag der Teppich. Ja, ein paar kleine Blutflecken waren darauf, aber da sollten sich sicherlich in einem Kinderspielzimmer weitere dazugesellen, nur halt nicht von mir.
Ich beorderte Herbert zur Hilfe und flugs wurde das Mobiliar transportiert. Beim Abstellen gab es ein Geräusch, als wenn irgendein Plastikteil zerbreche würde. Ich suchte an dem Schrank, konnte aber keine Beschädigung feststellen. Also wurde schnell alles gerichtet, bis ich plötzlich feststellte, dass ich das obere Teil meines Mittelfingers nicht mehr bewegen konnte. Auf meine souveräne Anmerkung: „Scheiße, ich kann meinen Finger hier oben nicht mehr bewegen“ gerieten Herbert und meine Frau völlig aus der Fassung. Selten habe ich Menschen so herzhaft lachen sehen. Aber beim ersten Zwischenfall angerannt kommen und „Was ist passiert?“ fragen. Soweit zum menschlichen Mitgefühl – es ist sehr vergänglich. Also, das obere Teilchen hing wie ein schlaffer Wurm an meinem Mittelfinger und die kluge Frau äußerte: „Du musst sofort ins Krankenhaus. Die Sehne zieht sich sonst zurück!“ Mag sein. Aber ich wollte noch mit Herbert laufen.

Der bleibende Schaden nahm seine Lauf
Ich weiß nicht, ob's damals schon einsetzender Altersstarrsinn war – mit knapp 30? Natürlich wurde die Trainingseinheit durchgezogen. Es stand ein Marathon an. Also, da werden Prioritäten gesetzt.

Direkt danach – übrigens habe ich aufs Mittagessen verzichtet und es gab Grünkohl! – ging's sofort ins Krankenhaus. Ich wurde kurz untersucht und es wurde nach meinen Erzählungen festgestellt, dass ich vermutlich mit dem Messer die Sehne angeritzt hatte, die dann durch die Belasten des Tragens vollständig den Dienst verweigert hatte. Ich sollte sofort operiert werden.

Na klar, ich war einverstanden. Allerdings war ich mit unserem Auto allein gefahren und das musste noch irgendwie nach Hause. Der Assistenzarzt ließ mich ziehen und verständigte – Sonntag – den Bereitschaftsdienst.

Wieder alles falsch
Ich sauste schnell nach Haus und erklärte der anwesenden weiblichen Person, was anstand. Der Grünkohlgeruch waberte durch Haus. Und ich hatte so einen Hunger. Ja klar, das feminine Geschlecht erklärte völlig vernünftig, dass ich vor einer OP nichts essen könne. So what. Ich war hungrig.

Ich weiß nicht, was dem Assistenzarzt alles zur Last gelegt wurde und die Kollegen aus der Bereitschaft waren sicher auch gewaltig angepisst. Was soll ich sagen, ich wurde dann morgens um halb 5 aus dem Schlaf gerissen und für die OP vorbereitet. Die Sehne hatte sich zurück gezogen mit eingangs beschriebenen Folgen und auch der Marathon war Geschichte. Und will ich heute den Stinkefinger zeigen, dann sagt mir DIESER Mittelfinger: Ich bin schon lange zu alt für diese Schei….! LG, euer Grandpa


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