Werbung

Nachricht vom 23.11.2019    

Über die Verhältnisse leben führt zu Revolution

Von Helmi Tischler-Venter

Das Westerwälder Kleinkunstfestival „FOLK & FOOLS“ in Montabaur bietet im 29. Jahr politische Kunst. Zu hochkarätigem Kabarett, politischer Folklore und mitreißender Musik luden die Kleinkunstbühne Mons Tabor und die Stadt Montabaur gemeinsam ein. Am Freitagabend (22. November) lebte zunächst der Kabarettist Frank Lüdecke in seinem aktuellen Programm „Über die Verhältnisse“. Anschließend sang das Bremer Folk-Quartett „Die Grenzgänger“ von der 1918er Revolution.

Die Grenzgänger. Fotos: Helmi Tischler-Venter

Montabaur. Nach dem Auftritt des Berliner Kabarettisten Frank Lüdecke plagte Uli Schmidt und viele Zuschauer das schlechte Gewissen, denn der Künstler, der selbst zu den „Babyboomern“ gehört, bezeichnete diese als die „Unwucht im Rentensystem“. Sein Lieblingszitat stammt von Angela Merkel: „Deshalb ist die Zeit gekommen, wirklich in eine Phase einzutreten, wo wir sehr konkret sagen, was gemacht werden müsste.“ Dieser „rhetorische Plattenbau“ unterscheidet sich erheblich von Lüdeckes verbaler Bauhaus-Kunst, die aus gutem Grund seit über 20 Jahren vielfach ausgezeichnet wurde.

Über die Verhältnisse lebt die Bundesrepublik Deutschland, die Flug-Taxis braucht, mehr bezahltes Ehrenamt a la Franz Beckenbauer, fünf Milliarden Euro für die Digitalisierung von Schulen, damit die staatlichen Schulen nicht zur AOK des Bildungswesens werden und frisches Personal in der Politik, obwohl aus kabarettistischer Sicht die Neuzugänge Spahn, Scheuer und Heimatkundler Seehofer sehr zu begrüßen sind. Letzterer lebt auch über seine Verhältnisse, weil er nicht nur in der Regierung sondern auch in der Opposition sein will. Und „Berlin ohne Dobrindt ist wie Leipzig ohne Semperoper.“

Wer seine Konfession mit „75 B“ angibt, offenbart seine geistigen Verhältnisse. Dagegen ist Arroganz der Versuch, die eigene Unterbelichtung als Überlegenheit zu verklären. Im Rückblick betrachtet, muss eine geringe Wahlbeteiligung nicht bejammert werden: Bei der letzten Bundestagswahl gingen viele Nichtwähler hin, wählten aber die Falschen. Da die Parteien einander zu ähnlich wurden und nur die AfD anders ist, wurde sie von ehemaligen Nichtwählern gewählt. Wenn jeder wählen könnte, was er wollte, wäre das Demokratie. Aber wenn man heute jemand abwählt, ist er EU-Minister. Das Lied über bundesdeutsche Politiker enthält den Refrain: „Komisch, keiner ist’s gewesen!“

Es ist zunehmend schwieriger geworden mit der politischen Orientierung. Wenn du politisch sein willst, dann kauf lieber Äpfel aus der Region. Der Boskoop aus Brandenburg ersetzt die Zweitstimme. Ideen wie den Veggieday muss man einfach einmal zulassen. Europa ist eine tolle Idee!

Im zweiten Teil des Abends kamen die „Grenzgänger“, ein mit vielen Preisen ausgezeichnetes Folk-Quartett aus Bremen, dem die Erneuerung des politischen Liedes in Deutschland maßgeblich zu verdanken ist. Ihr aktuelles Programm „Revolution“ enthält Lieder rund um die deutsche Revolution 1918, die den Ersten Weltkrieg beendete und die erste demokratische Republik auf deutschem Boden begründete.



Die hundertjährigen Lieder spielte das exzellente Quartett in frischen Varianten, mit Reggae, Rock- und Jazz-Elementen durchsetzt. Gefühlvoll spürten die Musiker dem Geist der Kieler Revolution nach mit Liedern von Rio Reiser und „Ton, Steine, Scherben“, Anti-Kriegs-Liedern wie „Mein Michel, was willst du noch mehr?“ oder dem volkstümlichen Spottlied „Wem hamse die Krone jeklaut?“ mit Wiederholungszeilen zum Mitsingen und Gitarrensolo. An den Gitarren brillierten Michael Zachcial und Frederic Drobnjak. Felix Kroll entlockte seinem Akkordeon jeweils passend zarte oder voluminöse Klänge und Annette Rettich brachte am Cello Gefühle hör- und spürbar zum Klingen.

„Brot, Kartoffeln, Kohle her!“, dieses Lied aus den 20er Jahren zeigt, was die Menschen durch die Revolution neben der Sehnsucht nach volkseigenen Schlüsselindustrien zuvörderst sichern wollten. Im „Lied vom Baum in der Großstadt“ klingen die Revolutionäre melancholisch und desillusioniert. Im „Gnomenlied“ philosophierte der 18-jährige Karl Marx darüber, wie die Zustände entstehen, die immer wiederkommen. Brennend aktuell sind auch die Lieder von Berthold Brecht und Hans Eisler.

Arbeiterlieder wurden von der Unesco zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt. Es ist wichtig, sie weiter zu singen und zu erzählen. Sänger und Moderator Michael Zachcial stellte fest, dass in der Kulturszene keine Arbeiterkinder mehr sind, weil es so schwer ist, dort Geld zu verdienen. Kulturschaffende tun dies meist mit elterlichem Geldpolster.

Als Zugabe boten die Grenzgänger ein Lied des Lyrikers Hölderlin und zum Abschluss von Schiller und Beethoven die „Ode an die Freude“, die „Europa-Hymne“, denn Europa ist eine tolle Idee!

Uli Schmidt, Sprecher der Kleinkunstbühne Mons Tabor verwies darauf, dass die Veranstalter mit nur 15 ehrenamtlich Aktiven das ganze Jahresprogramm bewältigt.

Am Samstag, 23. November um 20 Uhr bietet die Kleinkunstbühne ganz große Kunst in der Stadthalle Montabaur: Das „World Percussion Ensemble“ mit Musikern aus aller Welt wird rhythmisch zur musikalischen Völkerverständigung beitragen und die Künstler von „Drums United“ werden die Stadthalle erbeben lassen Mit Tanz- und Gesangseinlagen bringen die Künstler regelmäßig das Publikum zum Toben. htv



Lesen Sie gerne und oft unsere Artikel? Dann helfen Sie uns und unterstützen Sie unsere journalistische Arbeit im Kreis Neuwied mit einer einmaligen Spende über PayPal oder einem monatlichen Unterstützer-Abo über unseren Partner Steady. Nur durch Ihre Mithilfe können wir weiterhin eine ausgiebige Berichterstattung garantieren. Vielen Dank! Mehr Infos.




Jetzt Fan der WW-Kurier.de Lokalausgabe Montabaur auf Facebook werden!

Weitere Bilder (für eine größere Ansicht klicken Sie bitte auf eines der Bilder):
       
     


Anmeldung zum NR-Kurier Newsletter


Mit unserem kostenlosen Newsletter erhalten Sie täglich einen Überblick über die aktuellen Nachrichten aus dem Kreis Neuwied.

» zur Anmeldung



Aktuelle Artikel aus der Kultur


Bewerbungsstart für den Deutschen Buchhandlungspreis 2024

Region. Die Gewinner erwartet ein Gütesiegel verbunden mit einem Preisgeld von bis zu 25.000 Euro. Insgesamt stehen für den ...

Landesmusikverband fordert Kulturfördergesetz für Rheinland-Pfalz

Neuwied/Region. Hallerbach sprach von einem "besorgniserregenden Blick" auf die Kulturszene in Rheinland-Pfalz. Er verwies ...

Sterne des Südens leuchten im Westerwald: hochkarätiges Literatursommer-Programm

Willroth. Stellvertretend für die drei Landräte der Gemeinschaftsinitiative „Wir Westerwälder“, Dr. Peter Enders (AK), Achim ...

Neuwied-Block in Frühlingsstimmung: Konzert der Blocker Musikanten erwartet Musikliebhaber

Neuwied-Block. Mit ansteckender Begeisterung proben die Musiker in Neuwied-Block für das bevorstehende Konzert. Am Samstag, ...

Axel Prahl und Kindertheater: Programmänderung bei Rommersdorf Festspielen

Neuwied. Axel Prahl und sein Inselorchester müssen mit ihrem Abend zum Album "Mehr" einen Tag vorverlegt werden auf Donnerstag, ...

Neuwieder Künstlergruppe "Kultu(h)r" stellt in Schloss Burg Namedy aus

Neuwied/Andernach. Zu sehen sind dort ausgefallene Mosaikarbeiten von Günter Bruchhof, filigran bemaltes Porzellan von Ute ...

Weitere Artikel


Kinderklinik stolz auf große Anzahl an Jubilaren

Siegen. Geschäftsführerin Stefanie Wied ehrte gemeinsam mit Personalleiter Markus Kellersohn am Donnerstag 42 Kolleginnen ...

Schwerer Verkehrsunfall auf der B 256 sorgte für Behinderungen

Willroth/Horhausen. Ein schwerer Verkehrsunfall, mit schwerwiegenden Folgen, ereignete sich am Samstag, 23. November gegen ...

Besonderheit in Höhr-Grenzhausen: Hundesporthalle Westerwald

Höhr-Grenzhausen. Die neue Halle ist hell und großzügig mit weichem Kunstrollrasen. So wurde sie konzipiert, doch die Resonanz ...

KFI Werner Böcking verabschiedet, Holger Kurz ins Amt eingeführt

Kurtscheid/Neuwied. Landrat Achim Hallerbach konnte bei der Begrüßung auf eine voll besetzte Halle blicken. Die Gästeliste ...

Weihnachtsmarkt in Hachenburg vom 12. bis 15. Dezember

Hachenburg. Öffnungszeiten Weihnachtsmarkt 2019:
Donnerstag, 12. Dezember 11 bis 20 Uhr, Freitag, 13. Dezember, 11 bis ...

Domkapitular Richard Feichtner verstorben

Neuwied. Richard Feichtner wurde am 17. Januar 1927 in Trier-Euren geboren. Nach seiner Priesterweihe 1953 war er zunächst ...

Werbung