Zwischen Adrenalin-Pen und Aktenstapel: Wenn das System langsamer ist als die Krankheit
Von Eva Maria Hammer
KOLUMNE | Wie krank muss man sein, um als krank genug zu gelten? Eine chronisch kranke Frau aus dem Westerwald sucht Hilfe - bei Ärzten, bei der Krankenkasse, einem überforderten Gesundheitssystem. Doch statt Erleichterung gibt es Ablehnung. Statt Medikamenten: Formulare. Ihre Geschichte steht für viele. Und sie wirft eine beunruhigende Frage auf: Wird unser Gesundheitssystem selbst zum Notfall?

Alles begann mit einer Medikamentenumstellung. Ein neues Medikament, das gezielt ins Immunsystem eingreift, sollte ihre chronische Erkrankung endlich wirksam lindern. Doch nach der Umstellung beginnt ein neuer Albtraum.
Ein zweites Leiden entgleist: Urtikaria - besser bekannt als Nesselsucht. Seither leidet sie rund um die Uhr unter massiven Hautreaktionen. Quaddeln am ganzen Körper. Tiefer liegende Schwellungen, sogenannte Angioödeme, die sogar die Atemwege betreffen können. Reaktionen von Kopf bis Fuß. Juckreiz. Schmerzen. Erschöpfung.
Die bisherigen Medikamente helfen schon seit mehreren Monaten nicht mehr: vierfache Dosis Antihistaminika, dazu immer wieder Cortison - nicht weil es hilft, sondern aus Verzweiflung. Denn das Medikament, das helfen könnte, bekommt sie nicht. Es wäre verschreibungsfähig - theoretisch. Omalizumab - ein teures Medikament, das gezielt bei schwerer Nesselsucht eingesetzt wird. Doch der Weg dorthin ist versperrt: durch Vorschriften, durch Anträge, durch das System.
Einmal musste sie in die Notaufnahme, weil ihr Hals zu schwoll. Seitdem liegt ein Adrenalin-Pen in ihrer Jackentasche - für den Notfall, aber auch als tägliche Erinnerung daran, dass ein Notfall schneller kommen kann als ein bewilligtes Rezept.
Ihr Alltag ist ein Marathon. Nicht nur durch Schmerzen und Juckreiz, sondern auch durch Wartezimmer, Warteschleifen, Absagen. Immer weiter - ohne zu wissen, wann Hilfe kommt. Ihr Hausarzt versucht alles, was er kann. Aber er kann das Medikament nicht verordnen. Dafür braucht es einen Facharzt - und Termine, die kaum zu bekommen sind.
Viele Praxen lehnen ab: "Wir nehmen keine neuen Patienten." Oder: "Wir dürfen das nicht auf Kasse verordnen." Die Patientin hat erfahren, dass dies nicht ganz richtig ist. Oft fehlt lediglich die akribische Dokumentation der bisherigen Therapieversuche. Manche wollen aus Angst vor Regressforderungen erst beim ersten Termin mit der nötigen Dokumentation beginnen - der aber oft erst Monate später möglich wäre. Alles, was vorher war - die Symptome, die Versuche, die fehlgeschlagenen Medikamente - zählt dann nicht mehr.
Eine Hautärztin an einer Klinik erkennt die Dringlichkeit. Doch ihre Kassenzulassung zur Verordnung ist noch nicht durch - sie kann das Rezept nur privat ausstellen. Kostenfaktor: rund 1.300 Euro im Monat. Unbezahlbar. Also telefoniert die Patientin. Organisiert einen Antrag bei ihrer Krankenkasse. Diesen muss nun aber ein Facharzt ausfüllen. Hierzu fehlt der Termin am richtigen Ort. Sie wartet. Und wartet. Über 30 Praxen hat sie kontaktiert - vergeblich. Eine Praxisangestellte bringt die Lage auf den Punkt: "Wir schaffen nicht einmal die Nachsorge unserer Hautkrebspatienten."
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Und sie? Steht da - zwischen "darf nicht" und "kann nicht", zwischen "nicht dokumentiert" und "zu spät". Ihr Leid ist echt. Aber es passt nicht in die Formulare. Was nicht terminiert ist, existiert nicht. Was nicht dokumentiert ist, gilt nicht. Was nicht abrechenbar ist, wird nicht verordnet.
Ein Arzt sagt: Sie ist kein Einzelfall. Viele chronisch Kranke erleben gerade das Gleiche. Die ambulante Versorgung bröckelt - sie ist überlastet. Es fehlen Fachärzte, Kapazitäten, Zeit. Es ist also ein System, das abwimmelt, statt auffängt. Menschen mit schweren Symptomen werden zu Bittstellern. Wer akut Hilfe braucht, steht oft ohne Anschluss da. Ohne Termin. Ohne Lösung.
Dabei erklärt eine wissenschaftliche Mitarbeiterin eines Herstellers des Medikaments: "Kein Hautarzt mit kassenärztlicher Zulassung dürfte Sie eigentlich abweisen. Jeder könnte das Mittel verordnen. Die Voraussetzungen sind längst erfüllt. Und Sie sind nicht allein - wir hören von vielen Betroffenen, die sich an uns wenden, weil sie nicht weiterwissen."
Könnte. Dürfte. Müsste. Doch statt Hilfe gibt es Bürokratie. Blockaden. Frust. Schmerz. Juckreiz. Sie ist erschöpft - nicht nur vom Kranksein, sondern vom Erklären, vom Warten, vom Kämpfen. Vom Warten auf etwas, das längst möglich wäre - wenn das System nicht so oft im Weg stünde. Ihr bleibt nur die Hoffnung, dass vielleicht nächste Woche jemand endlich zuständig ist - und helfen darf.
Doch zwischen Adrenalin-Pen und Aktenstapel stellt sich eine Frage: Wie viele Menschen bleiben auf der Strecke - und wann wird das System selbst zum Notfall? (emh)
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