Leserbrief zu 75 Jahren Grundgesetz: "Wir-Gefühl, Solidarität und Respekt"
LESERMEINUNG | Zum 75. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai hat Landrat Achim Hallerbach zum offensiven Einsatz für die demokratische Werteordnung aufgerufen. Kuriere-Leser Siegfried Kowallek aus Neuwied fordert zu weniger Vergesslichkeit gegenüber der Geschichte auf, unterstützt aber den Ruf nach mehr Wir-Gefühl und Solidarität im täglichen Leben.
LESERBRIEF. "Ein heute geborenes Kind wird in seiner Kindheit Windkraftanlagen als selbstverständlichen Teil der Landschaft erleben. In der Schule wird es sich wundern, wenn Lehrkräfte erzählen, dass es vor seiner Zeit Erwachsene gab, die panisch von der Verspargelung der Landschaft sprachen. Ein Rentner wird sich daran erinnern können, dass in seiner Kindheit fast alle politischen Gruppierungen forderten: Keiner soll mehr als 20 Kilometer von der nächsten Autobahnauffahrt entfernt wohnen müssen. Eine Rentnerin wird manchmal daran denken müssen, dass in ihrer Kindheit das Betreten des Rasens verboten war.
Die alten Zeiten waren ganz anders. Besser waren sie deswegen aber nicht. Wenn Landrat Achim Hallerbach in seinem Appell zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes herausstellt, gerade Artikel 1 werde durch Respektlosigkeit und Gewalt auf Straßen und Plätzen sowie in den sozialen Medien immer mehr mit Füßen getreten, was einer allein auf sich bezogenen Wesenshaltung mit Symptomen wie Anspruchsdenken, Perspektivlosigkeit und mangelnde Empathie entspreche, ist das richtig und falsch zugleich.
Falsch, weil in dieser Aussage auch ein Stück Vergesslichkeit im Rückblick auf die letzten 75 Jahre steckt. Ich nenne nur ein paar Stichworte: Respektlosigkeit gegenüber Willy Brandt ob seiner unehelichen Herkunft, Aufforderungen zum Mord an ihm durch die Parole "Brandt an die Wand", Attentat auf Rudi Dutschke, Terrorismus nicht nur durch die RAF, sondern auch durch die Wehrsportgruppe Hoffmann.
Wir-Gefühl und Solidarität
Zustimmungsfähig ist sicherlich Hallerbachs Forderung, wir müssten wieder dahin kommen, Wir-Gefühl und Solidarität im täglichen Leben zu erzeugen. Aber auch hierbei gilt es, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Beim diesjährigen DGB-Empfang zum Tag der Arbeit in Bendorf berichtete der Hauptredner Karl-Heinz Lambertz, der ehemalige Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, von seiner Begegnung mit chinesischen Offiziellen und zitierte deren Spruch: "Ihr Westeuropäer werdet niemals verstehen, dass bei uns das Individuum nicht zählt."
Wir-Gefühl, Solidarität und der Respekt vor dem So-Sein der Einzelnen bis zum Recht auf Individualismus gehören im Land des Grundgesetzes zusammen. Wenn alle aufgerufen sind, sich für das Fundament unseres Lebens in Freiheit einzusetzen, ist das als Appell völlig in Ordnung.
Gleichwohl haben jedoch Einzelne das Recht, sich politisch passiv und desinteressiert zu verhalten. Denen, die freiheitliche Rechte nutzen, um die demokratische Staatsgrundlage auszuhöhlen und letztlich abzuschaffen, stellen sich somit idealerweise alle Engagierten entgegen. Einen sympathischen Totalitarismus gibt es nämlich nicht."
Siegfried Kowallek, Neuwied
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