Buchtipp: „gesichtslos - Frauen in der Prostitution“
Von Helmi Tischler-Venter
Unsere Region verfügt über etliche Straßen, Plätze und Institutionen, wo sexuelle Dienstleistungen angeboten werden, die zum Teil überregional beworben werden. Mit Erfolg, wie sich an den Autokennzeichen ablesen lässt. Wenn man miterlebt, wie die Prostituierten auf der Post Geldüberweisungen in ihre Heimat tätigen, ahnt man, dass große Not ihr Antrieb ist.
Dierdorf/Oppenheim. Julia Wege, Stephanie Herrmann, Martin Albert, Saskia Sauter, Laura Quandt und Fotograf Hyp Yertikaya verleihen den Frauen in einer Ausstellung in Mannheim und in dem vorliegenden Buch eine Stimme und gewähren einen Blick hinter die Fassaden. Sie zeigen eine „oft menschenunwürdige Lebens- und Arbeitssituation, häufig geprägt von Diskriminierung, Ausbeutung und Gewalt.“ (Dr. Peter Kurz)
Frauen, die in der Prostitution arbeiten, bleiben üblicher Weise gesichtslos, denn nur subjektive, flüchtige Erotik steht im Mittelpunkt des männlichen Kaufinteresses, nicht aber die Frauen dahinter.
In der bildenden Kunst spielte käufliche Liebe immer eine große Rolle. Seinen Höhepunkt erlebte das Sujet in der französischen Malerei in den Jahrzehnten um 1900. Bekannte Maler, die das Rotlichtmilieu thematisierten, waren unter anderen Edouard Manet, Edgar Degas, Henri de Toulouse-Lautrec, William Goldman, Bettina Flitner, Sabine Kress und aktuell Hyp Yerlikaya.
Yerlikayas ausdrucksstarke Fotografien, die bewusst mit durch Masken verdeckten anonymisierten Gesichtern aufgenommen wurden, sind mit repräsentativen Zitaten von Frauen in der Prostitution kombiniert.
Zum Beispiel: „Es war gar nicht meine Entscheidung. Ich hatte einen Freund und er hat gesagt, dass er mich liebt, heiraten will und mit mir zusammenleben möchte. Er hat mir erzählt, wir gehen gemeinsam nach Deutschland, wir arbeiten, wir kaufen uns ein Haus oder eine Wohnung und dann können wir ruhig leben.“
Loverboys legen es darauf an, eine emotionale Abhängigkeit einer Frau zu kreieren, um daraus einen finanziellen Vorteil zu erzielen. Der Einstieg in die Prostitution wird als Liebesbeweis ausgegeben.
Ein Großteil der Frauen weist einen Migrationshintergrund auf. Die meisten kommen aus südosteuropäischen Staaten. Eltern und Kinder müssen mit dem Gehalt der Frauen mitversorgt werden. Um die enormen Kosten zu erwirtschaften, können fünf bis 20 Freier pro Abend notwendig sein. Die psychischen und körperlichen Folgen dieser Arbeitsanforderungen sind gravierend. Um den Belastungen standzuhalten, versuchen die Frauen sich mit Luxusartikeln und anderen Annehmlichkeiten zu belohnen, dadurch bleiben keine Ersparnisse übrig.
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Zitat: „Viele der Frauen nehmen Drogen. Entweder um wach zu bleiben oder um alles ertragen zu können. Zuhälter verabreichen dir etwas, damit du besser funktionierst. Und Freier bringen Drogen mit für ihren extra Kick.“
Im Jahr 2020 ist das Prostitutionsgesetz in Deutschland in Kraft getreten, wodurch Prostitution legalisiert wurde. Der Kauf und das Anbieten von Sex soll als eine wirtschaftliche Tätigkeit anerkannt werden und einen geregelten Markt von Prostitution geben. Es soll die Diskriminierung von Menschen überwinden und den Frauen den Zugang zur Sozialversicherung ermöglichen. Auch eingeführt wurde die Kondompflicht. Doch: „Der Freier bestimmt, was passiert.“
Expertinnen meinen, dass das Gesetz seine Zielsetzung verfehlt, weil es sich an die Lebensrealität der selbstbestimmten und selbstorganisierten Frauen in der Prostitution orientiert. Die „Durchschnittsprostituierten“ haben in ihrer Lebensrealität gänzlich andere Probleme und keinen Nutzen aus den Regelungen. Die Strukturen im Rotlicht-Milieu sind von Zwang, Gewalt und kriminellen Strukturen durchzogen.
Zitate: „Auf der Straße weißt du nicht, was passieren wird. Du steigst in ein Auto und du weißt nie, was er mit dir macht. Du hast immer Angst und musst immer aufpassen, ob er an den richtigen Platz oder in die richtige Straße fährt. Vielleicht fährt er auch zu einer Wohnung, in der andere Männer auf dich warten und mit dir machen können, was sie wollen. Es ist sehr schrecklich, auf der Straße zu arbeiten.“ Und: „Es ist jedes Mal eine große Überwindung, den Geruch und den Körperkontakt zu ertragen. Nach dem Sex muss ich mich immer sofort waschen.“
Die Sehnsucht nach einem normalen Leben ist groß: „Mein größter Wunsch ist, dass meine beiden Kinder wieder bei mir wohnen können.“ Oder: „Hoffnung ist mein tagtägliches Leben. Man hofft jeden Tag, dass das Leben besser wird, dass man eine normale Zukunft hat.“ Aber nur mithilfe von Beratungsstellen können die Frauen derzeit Alternativen zu ihrer entwürdigenden Arbeit finden.
Das gebundene Buch mit 152 Seiten und 61 Abbildungen ist erschienen im Nünnerich-Asmus Verlag, ISBN 978-3-96176-169-2. (htv)
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