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Nachricht vom 19.01.2021
Region
Professor Dr. Rüdiger Heinrich Jung: Vom wertvollen Umgang mit der Corona-Krise
Aufgrund der derzeit grassierenden Covid-19-Pandemie schreibt der Professor für den NR-Kurier ein Essay zu den damit verbundenen ethisch-philosophischen und über möglicherweise sinnvolle Lebensentwürfe.
Professor em. Dr. Rüdiger Heinrich Jung. Foto: Hochschule Koblenz/BarzNeuwied. Professor i. R. Rüdiger Heinrich Jung ist gebürtiger Neuwieder (1950), verbrachte seine beruflichen Wanderjahre im Ruhrgebiet, in London und im Siegerland und lebt wieder seit längerer Zeit in Neuwied. Bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 2016 war er an der Hochschule Koblenz (Universität) tätig, zunächst in der Rhein-Mosel-Stadt selbst, dann als ernannter Vorsitzender des Aufbauausschusses des neuen Rhein-Ahr-Campus in Remagen.

Geschrieben hat er inzwischen mehr als ein Dutzend Bücher und nun, im beruflichen Ruhestand, ein Buch über die menschliche Existenz und die Frage nach dem Sinn. Für Rüdiger Jung ist die Beschäftigung mit Menschen, ob in seinen wissenschaftlichen Arbeiten oder in seiner Beratungspraxis, zu einem lebenslangen Thema geworden. „In seinem jüngsten Buch „Besinnt euch! Ein Plädoyer für das Menschliche“, veröffentlicht unmittelbar vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie, geht es grundsätzlich um die Frage, wie sinnorientiert Menschen tatsächlich in ihrem jeweiligen Leben unterwegs sind beziehungsweise sein können. (Jürgen Grab)

SINNVOLLES in unruhigen Zeiten von Professor em. Dr. Rüdiger Heinrich Jung, Neuwied
Niedergelassene Psychotherapeuten berichten von vermehrtem Zulauf an Patienten mit Angststörungen, dem Wiederauftreten früher behandelter Depressionen, Partnerschaftsstress u.a.m. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mahnt die Berücksichtigung der psychischen Folgen der Corona-Pandemie wie Trauer um Verstorbene, Verlustängste, Vereinsamung, Alkohol- und Drogenkonsum an. Klinikpathologen berichten vom vermehrten Anfall von Obduktionen, bei denen der Leichnam seit Wochen unbemerkt in der Wohnung der oder des Verstorbenen lag. Zudem weisen sie auf Erkrankungen hin, die einer medizinischen Behandlung bedurft hätten und womöglich aus Angst vor einer Infektion im Krankenhaus herausgezögert wurden. Soweit der – keineswegs vollständige – Blick allein auf die bereits kurzfristig erkennbaren psychischen „Nebenwirkungen“ der gegenwärtigen Pandemie. Mittel- und langfristig wird das Bild eher noch düsterer ausfallen.

Auch wer mit ausreichender Robustheit (Resilienz) und dem Aufrechterhalten sozialer Kontakte psychisch weniger gefährdet ist, kann doch an sich selbst Wirkungen wie leichtere Gereiztheit, Frustration, Angst um die Existenz des eigenen Geschäfts oder kompensatorische Konsumhandlungen beobachten. Da bislang jede Pandemie auch ein Ende hatte, rechtfertigt die Frage nach den psychischen Folgen auch einen – derzeit vielleicht noch verfrüht erscheinenden – positiven Blick in die Zukunft: Wer die Pandemie gesundheitlich unbeschadet übersteht, wird vielleicht ein Stück gelassener werden im Umgang mit größeren oder kleineren Krisensituationen.

Zu allen diesen Aspekten wird es mit Sicherheit in naher Zukunft eine Fülle von wissenschaftlichen Untersuchungen und entsprechende Daten geben. Was leider zu sehr im Schatten der psychologischen Betrachtung steht, ist die Frage, welchen Sinn wir in der gegenwärtigen Krise erkennen können. Was an Wertvollem(!), das wir im Alltag vor der Krise nicht gesehen oder in seiner Bedeutung nicht gewürdigt haben, wollen wir „mitnehmen“ in die Zeit nach der Pandemie?

‚Sinn der Krise? Erkennen von ‚Wertvollem‘ in der Krise? Was kann denn daran wert- und sinnvoll sein? Gemeint ist die Tatsache, dass wir Menschen in unserem Handeln nicht nur durch unsere Psyche bestimmt werden. Wir sind auch geistige Wesen, orientieren uns an Werten, messen ihnen unterschiedliche Bedeutung zu und stellen sehr grundsätzliche Fragen nach dem Sinn unseres Tuns, unseres Lebens insgesamt. Wo unsere Psyche mit Verlustangst, Niedergeschlagenheit oder Aggressivität reagiert, kann das Geistige in uns wie von einer Außenposition auf uns selbst schauen, unser Tun, unsere Verhaltensmuster hinterfragen und eine Vorstellung von dem, wie wir eigentlich sein wollen, entwickeln. Das Geistige ist das Freie in uns. Darauf zielt auch – wenngleich allzu häufig als Ausrede gebraucht – der Spruch ab: „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“. Korrekterweise müsste er lauten: „Der Geist ist willig, aber die Psyche ist schwach“. Dass die Psyche in der Krise schwächelt und auf die drohende Gefahr schaut, kann nützlich oder sogar lebenserhaltend sein. Problematisch ist, wenn uns dies so sehr beherrscht, dass wir die Freiheit des Geistigen gar nicht mehr wahrnehmen, keinen Gebrauch mehr von ihr machen. Warten wir, versunken in den Untiefen der TV-Unterhaltung, ungeduldig auf die Rückkehr des alten Zustands vor Eintritt der Corona-Krise oder sind wir empfänglich für neue Sichten auf unser Leben? Auf das, was uns wirklich wichtig ist?

Nutzen wir das verordnete Runterfahren des sozialen Lebens und die damit einhergehende Ruhe, um mit allen Sinnen und der Weisheit unseres Herzens dem Nachzuspüren, was sich aus uns heraus, also nicht von „Sinnverkäufern“ aufgeschwatzt, wertvoll anfühlt? Machen wir, statt uns auf psychische Krisenreaktionen reduzieren zu lassen, Gebrauch von unserem freien Geist, einer doch schier unglaublichen „Grundausstattung“, die uns Menschen gegeben ist? Zur Freiheit des Geistigen in uns gehört auch eine Auseinandersetzung mit der Frage: Brauche ich das, was mir jetzt aufgrund der Corona-bedingten Einschränkungen nicht möglich ist, wirklich für ein gutes, sinnerfülltes Leben? Eine Antwort auf diese Frage bekommt alsbald eine noch viel größere Bedeutung. Nämlich dann, wenn wir erkennen, wie rasch, konsequent und einschneidend für unsere bisherige Lebensweise wir uns der Klimakrise widmen müssen.


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