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Nachricht vom 20.10.2022
Kultur
Immer noch erschreckend aktuell: „Angst fressen Seele auf“
Rainer Werner Fassbinders Stück spielt 1973, zur Zeit des Anwerbestopps von „Gastarbeitern“ wegen der ersten Ölpreiskrise und steigender Arbeitslosigkeit im deutschen Wirtschaftswunder. Eine sechzigjährige Putzfrau und Witwe lernt in einer Gastarbeiterkneipe einen wesentlich jüngeren Marokkaner kennen. Sie verlieben sich. Die Premiere im Schlosstheater Neuwied am Donnerstag (20. Oktober) war ein Erfolg.
Ali und Emmi. Fotos: Helmi Tischler-VenterNeuwied. Die Hauptrollen sind optimal besetzt mit Ursula Michelis als lebenserfahrene Emmi, die als Putzfrau arbeitet, weil sie „nichts Richtiges gelernt hat im Leben“. Da das Geld immer knapp ist, arbeitet sie für mehrere Arbeitgeber, ohne sich zu beklagen. Sie beschwert sich auch nicht über ihre drei Kinder, die in derselben Stadt auf Distanz zu ihr leben.

Gleichzeitig vertritt sie standhaft ein liberales Menschenbild: Sie hatte gegen den Willen ihrer Mutter einen polnischen „Fremdarbeiter“ geheiratet, der mit 55 Jahren an Leberzirrhose verstorben ist. Als Ali ihr für Essen und Getränke Geld geben will, lehnt sie das ab und hebt es für ihn auf. Sogar, als Ali ihr sein Fremdgehen gesteht, will sie ihm nichts verbieten und tröstet ihn: „Du bist ein freier Mensch. Ich weiß doch, dass ich alt bin.“

Der Altersunterschied, der die Umwelt aufregt, ist sichtbar. Marcus Abdel-Messih ist als Ali jung, freundlich, verständnisvoll und rücksichtsvoll. Man versteht, dass Emmi sich in den Marokkaner verliebt, dessen Vater als Berber „viel spazieren geht mit Kamele.“ Da der Mann mit sechs anderen Arbeitern in einer menschenunwürdigen Behausung schläft, bietet ihm Emmi ein Zimmer in ihrer Wohnung an.

Das bringt die Umwelt in große Aufruhr, denn eine ältere Frau und ein jüngerer Mann werden als unanständig und absurd bezeichnet, während ein älterer Mann mit einer jungen Frau anerkennend belächelt wird. Noch schlimmer ist für die Nachbarin, den Lebensmittelhändler, die Kolleginnen und Emmis Kinder, dass die Frau einen „Ausländer“ heiratet. „Die haben nur Weiber im Kopf, lauter Gesindel, die leben auf unsere Kosten“, sind allgemeingültige Klischees.

Die Kinder sind über das Verhalten ihrer Mutter so entsetzt, dass sie sich von ihr lossagen, der Händler macht sich lustig über Ali und bedient ihn nicht, die Nachbarin ruft sogar die Polizei wegen angeblicher Ruhestörung und die anderen Putzfrauen behandeln Emmi wie Luft. In dieser belastenden Situation machen sich Emmi und Ali gegenseitig Mut und versichern sich ihrer Liebe zueinander.

Aber die vielen Beleidigungen – „Ist das deine Großmutter aus Marokko?“ - und die kulturellen Unterschiede wirken langsam ätzend. So kann Emmi keinen Couscous kochen, den Ali liebt. Er geht zu seiner früheren Geliebten, trinkt Alkohol und verspielt sein Geld. Emmi will ihrem Mann zurückholen, sie geht in das Lokal, in dem sie sich kennengelernt haben. Als sie miteinander tanzen wie ganz zu Anfang, erleidet Ali einen Kollaps.

Die Menschen in der Umwelt des Paares werden in wechselnden Rollen von Stella Withenius, Torsten Peter Schnick, Sören Ergang und Enrico Riethmüller dargestellt.

Das Bühnenbild besteht aus den vier großen, glitzernden Ziffern, die gedreht und geschoben werden, um neue Situationen abzubilden: 1-9-7-3. Das stellt die Handlung einerseits in den historischen Kontext, zeigt jedoch zugleich, dass fünfzig Jahre danach die Ängste, Animositäten und Vorurteile in der Gesellschaft dieselben sind.

Das Premierenpublikum belohnte die anrührende Schauspielleistung des gesamten Ensembles mit langanhaltendem Beifall. (htv)
       
 
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